PositionenSchuldensanierung soll komplett umgekrempelt werden
Schuldensanierung soll komplett umgekrempelt werden
Für die grosse Mehrheit der überschuldeten Menschen gibt es in der Schweiz keine Möglichkeit ihre Schulden dauerhaft zu sanieren. Dies soll nun eine Revision des Schuldbetreibungs- und Konkursrechts endlich ändern. Wo liegen die Knackpunkte?
«In der Schweiz gibt es immer mehr Arme, auch weil es immer mehr Schulden gibt.» beginnt das Strassenmagazin Surprise seine Schulden-Serie. Und schussfolgert: «Schuldenprävention ist ein mächtiger Hebel, um die Schwächsten unserer Gesellschaft besser zu stellen – und ein vernachlässigter dazu.» Dies gilt zweifellos für die Schweiz, deren Gesetze nur wenigen Schuldner*innen einen Ausweg aus den Schulden ermöglichen. Zumindest bis anhin.
Wie viele Menschen in der Schweiz überschuldet sind, weiss auch das Bundesamt für Statistik nicht genau. Gut ein Fünftel der Haushalte sind mit mindestens einer Zahlung im Rückstand, bei Einelternfamilien und Paaren mit drei Kindern sind es deutlich mehr. Sicher ist, dass Haushalte mit tiefen Einkommen besonders zu kämpfen haben. Vier Fünftel der jährlich etwa 5000 Ratsuchenden bei den gemeinnützigen Schuldenberatungsstellen leben von unter 6000 Franken Haushaltseinkommen. Und gemäss einer aktuellen Studie der FHNW sind 60 Prozent der Sozialhilfebeziehenden verschuldet.
Schulden sind ein zentrales sozialpolitisches Problem
Verschuldung wird hierzulande moralisch aufgeladen und oft mit einem exzessiven Lebensstil in Verbindung gebracht. Das kommt vor, bleibt aber eher die Ausnahme als der Regelfall. Spiel- oder Kaufsucht beispielsweise sind nur bei zwei Prozent der Ratsuchenden ursächlich für die Verschuldung. Die grosse Mehrheit hat andere Probleme: Ein geringes Einkommen gepaart mit Arbeitslosigkeit (24%), einer Trennung oder Scheidung (24%) oder gesundheitlichen Schwierigkeiten (23%). Dementsprechend besteht der Schuldenberg der Ratsuchenden insgesamt weniger aus Konsumkrediten (14%) sondern vor allem aus nicht bezahlten Steuern (30%) und Krankenkassenprämien (11%).
Die meisten verschuldeten Menschen bleiben ohne Perspektive. Sie leben vom betreibungsrechtlichen Existenzminimum, haben Probleme bei der Wohnungssuche. Die Belastung wirkt sich auf den gesamten Haushalt aus und führt vielfach zu Problemen in Partnerschaft und Familie. Auch die negative Auswirkung von Verschuldung auf die Gesundheit ist empirisch belegt. Mangelnde Teilhabe führt zu sozialer Desintegration. Ohne Ausweg aus der Schuldenfalle.
Führt die Schweiz eine Restschuldbefreiung ein?
Im Gegensatz zu den meisten OECD-Ländern kennt die Schweiz bisher kein Sanierungsverfahren mit Restschuldbefreiung. Die bestehenden Sanierungsverfahren gemäss OR und SchKG bedürfen der Zustimmung der Gläubiger*innen. Schuldner*innen mit zu geringem Einkommen sind dabei von Anfang an ausgeschlossen. Die Verfahren kommen nur in etwa 15% der Fälle zu Anwendung. Zudem werden die Schuldner*innen nach einem Privatkonkurs zwar nicht mehr gepfändet, die Schulden bestehen aber als Verlustscheine weiter.
Angestossen durch eine Ermahnung der OECD und einen parlamentarischen Auftrag anerkannte der Bundesrat 2018 den Handlungsbedarf und liess das Bundesamt für Justiz eine Vorlage ausarbeiten, die im zweiten Quartal 2022 in ein breites Vernehmlassungsverfahren geschickt werden soll. Die einvernehmliche private Schuldenberatung (SchKG Art. 333ff) soll durch ein vereinfachtes Nachlassverfahren ergänzt werden. Und es soll ein neues «Sanierungsverfahren im Konkurs» eingeführt werden, nach dessen Abschluss den Schuldner*innen die restlichen Schulden erlassen werden. Dies allerdings wäre ein grosser Schritt, wenn es darum geht, Verschuldeten einen Neustart zu ermöglichen.
Auch die Kommunen und Kantone haben ein Interesse an besseren Bedingungen für die Schuldensanierung. Sie sind wegen der Steuerschulden die grössten Gläubiger, bezahlen aber auch weitere Kosten der Verschuldung. Ganz direkt: Die Kantone übernehmen 85 Prozent der ausstehenden Krankenkassenprämien. Und indirekt über Sozialkosten durch gesundheitliche und familiäre Folgen der Verschuldung. Bei einer Reintegration nach einem Schuldenschnitt entfallen Sozialkosten und im Normalfall werden zusätzliche Steuereinnahmen generiert. Eine Entschuldung hat auch volkswirtschaftlich positive Effekte.
Grosser Wurf oder Papiertiger?
Die Schweiz hinkt anderen Ländern hinterher. Positiv daran: Die Schweiz kann bei der Ausgestaltung des Restschuldenbefreiungsverfahrens Fehler vermeiden, die andere machten und korrigieren mussten. So haben beispielsweise Deutschland und Österreich die Dauer des Abschöpfungsverfahrens auf drei Jahre verkürzt. Eine längere Abschöpfungsphase verringert die Chance, dass die Verfahren erfolgreich ohne Neuverschuldung abgeschlossen werden, leben die Betroffenen doch meistens bereits Jahre mit einem betreibungsrechtlichen Existenzminimum.
Ebenso entscheidend für ein funktionierendes Verfahren ist, dass die Schuldner*innen eine sozialarbeiterische Begleitung in Anspruch nehmen können. Die Studie von Lechner aus Deutschland hat gezeigt, dass die Hälfte der Verschuldeten eine solche brauchen, um das Verfahren erfolgreich durchlaufen zu können und ihre Lebenssituation so aufzustellen, dass sie nicht gleich wieder in eine neue Verschuldung hineingeraten. Zumal in der Schweiz ohne direkten Steuer- und Krankenkassenabzug und mit einem hohem Anteil selbstgetragener Gesundheitskosten im Vergleich zusätzliche Stolpersteine bestehen.
Aus Sicht der Expert*innen der Schuldenberatung ist die Einführung eines Abschöpfungsverfahrens mit anschliessender Schuldentilgung sowohl aus Sicht der Betroffenen als auch der Allgemeinheit grundsätzlich ein Gewinn. Aber nur, wenn das Verfahren entsprechend konzipiert wird. Damit es auch in Realität erfolgreich sein kann, sind die genannten Aspekte absolut zentral. Sonst bleibt es ein Papiertiger. Unbedingt sollen die aktuellen Sanierungsinstrumente für Leute mit einer wirtschaftlichen Leistungsfähigkeit weiterhin möglich sein. Sonst droht ein Nullsummenspiel und ein neues Verfahren mit strengeren Bedingungen für die Schuldner*innen als heute. Die Akteur*innen der Sozialpolitik sind aufgefordert, einer zukunftsfähigen Regelung zum Durchbruch zu verhelfen.
Literatur
Lechner, Götz (2009): Eine zweite Chance für alle gescheiterten Schuldner? Längsschnittstudie zur Evaluation des Verbraucherinsolvenzverfahrens. SCHUFA Forschungsbericht.
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